Marcel Germann

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Ein Passant

Ich liebe Bahnhöfe. Naja "lieben" ist vielleicht übertrieben, aber ich geniesse es jedes Mal, durch eine dieser grossen kühlen Bahnhofshallen zu strömen und - hier kommt die eigentliche Liebe - die Passanten zu beobachten. Ja genau: sind wir zu Hause, bei der Arbeit, bei Freunden oder sonst irgendwo in unserer eigenen Welt, dann sind wir Büroangestellte, Hausfrauen, Jass-Meister oder was auch immer. Unterwegs hingegen sind wir alle einfach "Passanten". Am Bahnhof befinden wir uns - auch wenn wir noch so verschiedene Menschen sind - alle in der gleichen Situation. Auch die, die erste Klasse reisen, müssen am Bahnhof genau gleich wie die anderen auf den richtigen Bahnsteig gehen, bzw. auf den Zug warten oder rennen.

Es ist Sommer. Wie ein Schwamm werde ich von der Hitze ausgedrückt. Ich überlege mir ernsthaft, ob es etwas bringen würde, wie ein Hund zu hecheln. Vielleicht sollte ich mir das für den Zug aufsparen; Regionalzüge sind nicht klimatisiert. Ein alter Mann kommt dahergelaufen. Wie die meisten seiner Altersgenossen trägt er ein dickes Hemd und eine sogenannte Sommerjacke darüber. Hilfe! Wie geht das denn?! Sicherlich trägt er noch ein Unterhemd, so ein typisches Trägerhemd, darunter. Ja genau! Ich sehe es ganz deutlich, wie die Konturen sich abzeichnen. Es kann mir ja egal sein, was dieser Mann in der brütenden Hitze trägt (habe ich schon die langen Hosen erwähnt?), aber ich würde verdammt gerne wissen, wieso ich hier beinahe krepiere und er warm eingepackt nicht eine einzige Schweissperle produziert. Jemand hat mir mal gesagt, ältere Leute schwitzen weniger. Im Moment bin ich versucht, meine Jugend gegen diese Hitzebeständigkeit einzutauschen.

Der Zug kommt und siehe da: er ist doch klimatisiert. Kühle Luft beginnt meinen Körper zu reaktivieren. Der alte Herr zieht seine Jacke ab. Hat ihm denn niemand gesagt, dass es hier drin kälter ist als draussen? Soll etwa ich es ihm jetzt sagen? Draussen trägt man Jacken, drinnen nicht, das ist wohl bei ihm einfach so - scheissegal, wo es wärmer ist. Da werde ich wohl gegen eine womöglich 70 Jahre lang praktizierte Gewohnheit nicht ankommen.

Er zieht seine Jacke wieder an und steigt aus. Ich folge ihm. Es ist nicht der Bahnhof, den ich - oder mein Arbeitsort - mir als Ziel setzte, aber ... was soll's? Schon öfters habe ich im Zug oder an Bahnhöfen Menschen gesehen, denen ich gerne einfach einmal nachgelaufen wäre. Der alte Mann begann mich einfach zu interessieren - ich weiss nicht warum - und ich will ihn ohne Passanten-Hülle sehen.

Ihm zu folgen ist überhaupt nicht schwer. Er bewegt sich so langsam, dass ich mir fast blöde vorkomme, das gleiche Tempo zu halten. Vielleicht macht ihm die Hitze doch zu schaffen. Ein leichtes Lächeln fliesst wie kühles Wasser über mein Gesicht. Er schleicht an den Schaufenstern vorbei, glotzt verwundert mal hier mal da hin, blickt den Autos nach. Fast könnte man meinen, er habe gar kein Ziel für seinen mühseeligen Weg. Wofür die ganze Anstrengung, alter Mann? Gehst du einfach nur nach Hause oder interessieren dich tatsächlich die Schaufenster aus einer Welt die du - so ratlos wie du durch die Gläser blickst - gar nicht mehr verstehst?

Er wackelt weiter und biegt in eine Seitengasse ab. Jetzt habe ich ihn dann, denke ich mir. Ich versuche genügend Abstand zu halten - und das ist bei seinem Kriechgang weiss Gott schwierig. Ja, hier irgendwo wird er wohl seine Wohnung haben. Nicht doch! Er verlässt die engeren Gassen wieder und läuft einer grösseren Strasse entlang. Andere Fussgänger überholen uns. Vielleicht sollte ich hinken, damit ich nicht so auffalle. Ach was. So lange er mich noch nicht entdeckt hat, soll mir das doch egal sein.

Weiss denn diese Schildkröte überhaupt, wo sie hin will? Wie lange kann ein alter Mann überhaupt laufen? Keine Angst, dir wird das Benzin schon vor mir ausgehen, alter Mann.

Ah, endlich: er verlässt die Strasse, scheint durch den Park wohl in eines der kleinen Häuschen dahinter gehen zu wollen. Nein. Er setzt sich mitten im Park auf eine Bank. Ich nehme eine Bank in der Nähe und beobachte ihn unauffällig.

Da sitzt er jetzt, zwanzig Minuten schon, sitzt einfach da und schaut den Vögeln zu. Nein, alter Mann, nicht mit mir. Los! Beweg dich schon! Jetzt bin ich dir den ganzen Weg hinterhergelaufen - hinterhergekrochen - und du weisst mir nichts besseres zu bieten, als endlos auf dieser blöden Parkbank zu sitzen!? Los, steh jetzt auf! Das bist du mir schuldig. Ich sitze hier nun schon immerhin zwanzig Minuten wegen dir und warte. Du hättest mir wenigstens den Platz im Schatten lassen können.

Ich warte immer noch, sitze einfach da und schaue einem Greis zu, wie er dahin vegetiert. Mein Zug ist weg, wann der nächste kommt weiss ich nicht. Aufgeben? Nein, sicher nicht! Was soll ich denn nacher von mir denken? Dass ich mich bei einem uralten Mann geschlagen gebe und nicht einmal seinen Wohnort herausfinden kann?

Ich warte. Er wird doch wohl ein Zuhause haben? Ach was, im Winter würde er bei seinem Alter ja sonst erfrieren hier draussen. Ich denke an den Winter.

Ich warte. Nun komm schon! Beweg dich wenigstens ein bisschen. Sprich von mir aus mit den Vögeln oder mit dir selber, aber tu doch etwas! Ich habe vermutlich noch viele Jahre vor mir, aber du wirst doch deine mikrige Zeit nicht im Park totschlagen wollen.

Vielleicht will er ja gar nicht nach Hause. Vielleicht gefällt es ihm dort gar nicht. Vielleicht gefällt ihm sein Leben nicht und er bleibt lieber ein Passant - geht nur noch zum Schlafen nach Hause und spricht mit niemanden über mehr als den im Bahnhof üblichen Smalltalk. Kann man 70, 80 oder 90 Jahre lang ein Passant sein?

Ich warte. Schläft er jetzt, oder was? Nein, jetzt hat er sich wieder bewegt. Er dreht den Kopf, schaut einem händchenhaltenden jungen Päärchen nach.

Ich warte. Ruckartig steht er auf, um dann wieder in seinem schleichenden Gang weiter zu wackeln. Er verlässt den Park und geht wieder in ein Wohnquartier. In einer schmalen Strasse hält er an. Ich erwarte, dass er sich jetzt umdrehen und mich entdecken wird. Ich halte den Atem an. Nichts. Er geht geradewegs auf ein hier typisches Wohnhaus zu und verschwindet darin.

Jetzt stehe ich da und weiss nicht, was ich eigentlich wollte. Ich hatte erwartet, dass ich ihn durchs Fenster weiterbeobachten könnte, aber bei diesem Haus sah man nichts. Nur Vorhänge, wie bei allen Nachbarn auch. Was versuchen all diese Leute eigentlich dahinter zu verbergen? Ihre Persönlichkeit? Ihr Individualismus? Ihre Gedanken? Oder versucht man mit der nur einseitigen Durchsicht von verhängten Fenstern bloss den Schein eines interessanten Lebens, einer geheimnisvollen Persönlichkeit zu wahren? Vielleicht sitzt er jetzt auf seinem Sofa, vegetiert einfach so vor sich dahin - wie auf der Parkbank vorhin. Vielleicht versteckt er sich vor mir - oder zumindest vor der Ahnung von meiner Existenz.

Ich gehe wieder.

P.S: Hierbei handelt es sich lediglich um ein Gedankenexperiment. Bei den Dreharbeiten wurden keine ältere Menschen verletzt oder verfolgt.

Masi, 20.07.2003