Marcel Germann

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Ich weigere mich, dem ein Titel zu geben

Manchmal frage ich mich, wieviele kleine Dinge es in der Welt gibt, die mich aufregen. Jetzt mal ganz abgesehen von den grossen Problemen wie Krieg, Krankheiten, Katastrophen, Korruption und andere K's (gut, dass ich nicht Karl heisse) denen ich als einzelner leider nur wenig entgegensetzen kann, denke ich jetzt an die alltäglichen tausenden von kleinen Übel, die sich als winzige kleine Mikroben an mir zu schaffen machen.

Man soll ja nicht zu theoretisch werden und um den heissen Brei herumreden, so werfe ich doch einfach ein paar Beispiele auf: Als ich heute meinen kleinen künstlichen Sklaven einschaltete - Sie lachen vielleicht über den Begriff, doch das war ja die ursprüngliche Idee dieser Erfindung, noch lange bevor sie sich selbständig machte und uns mit Blue-Screen-Attacken selbst versklavte ... naja egal. Wo war ich? Ah ja, also: als ich heute eben eine dieser Kisten - MEINE persönliche Kiste - einschaltete, erschien wie immer nach ein paar Sekunden die "Anmeldung". Wie bitte? Also ich dachte immer ich bin EINE Person und diese Kiste ist MEIN PC (was ja für "PERSONAL Computer" steht). Aber nein: da gibt es, auch wenn man nur eines davon hat, sogenannte "Benutzerprofile". Dann gibt es gemeinsame Dateien und Administratoren etc. etc. etc. Das sind ja sicher alles tolle Sachen, aber ich habe es bis jetzt noch nicht fertig gebracht, diesen Kram zu Beseitigen, bzw. das Betriebssystem ein bisschen weniger schizophren einzurichten. Verblüffend, dass man sich bei SEINEM EIGENEN Computer anmelden muss - und nicht mal bei der Anmeldung zum Arzt muss ich zuerst ein Passwort sagen, um einen Termin zu bekommen. Auf jeden Fall bin ich dankbar, jetzt diesen Text tippen zu dürfen, ohne eine Begründung dafür geben zu müssen oder eine neue Autoren-Umgebung einrichten zu müssen.

Gut, die Maschine gehorcht. Der Mensch nicht - soll er auch nicht, denn sonst würde es langweilig werden. Trotzdem: auch er läuft manchmal wie nach einem Programm irgendwelchen Dingen hinterher. Gruppendruck - das ist ein Wort das mir jetzt gerade dazu in den Sinn kommt. Als ich in der Primarschule (oder war es Bezirkschule?) war, da war dieses Wort gerade populär. War auch toll: dem konnte man vieles zu Schulden kommen lassen. Wenn mein Kind Drogen nimmt, dann hatte es Umgang mit schlechten Kreisen. Wenn ich etwas tat, was ich nicht wollte, so wurde ich dazu getrieben. So wurde der Gruppendruck selbst zum Gruppendruck und man glaubt daran weil andere glauben.

Was ist eigentlich heute gerade das Trendwort? Keine Ahnung. Ich habe manchmal das Gefühl, die Schlagwörter ändern sich immer schneller. Da taucht schnell die Frage auf, ob sich denn auch wirklich die Bedeutung ändere oder nur das Wort. "Rezession" ist so ein Begriff, mit dem die aktuelle Wirtschaftssituation schon vor 10 Jahren bezeichnet wurde (weiter zurück kann ich mich nicht mehr erinnern). Ich weiss nicht, wie man es jetzt gerade nennt, aber fragt man eine Person auf der Strasse, ob wir in einer guten Wirtschaftssituation leben, so schüttelt sie den Kopf. Das wird wohl auch noch in 10 Jahren noch so sein. Oder der Mann auf der Strasse müsste sich plötzlich fragen wieso es ihm denn persönlich nicht gut geht - oder besser: wieso er es nicht merkt, dass es ihm gut geht. Stattdessen rennt er neuen Wörtern hinterher, oder neuen Trends. Sicher hat er ein Palm oder ein Handy, ein Kick-Board und tausend andere Luxusgüter, die ja mitlerweile zum Existenzminimum bzw. zur täglichen Überlebens-Ausrüstung gehören, obwohl er sie vielleicht gar nicht braucht.

Ja, ich selber habe auch ein Handy, bekenne mich also zu dieser Sekte, und zu der von ADSL. Trotzdem rufen mich immer wieder Telefongesellschaften an und wollen mich als Kunden. Sogar die, bei denen ich abonniert habe, wollen mich für ihre speziellen Wochenend-Surf-Tarifen gewinnen, obwohl ich ja bei ihnen schon eine Internet-Standleitung habe. Hmmm, vielleicht brauche ich ja für jedes Benutzerprofil eine und für den Administrator zwei.

Werbung - da sind wir schon wieder bei der Bewusstseinsspaltung meiner selbst: einerseits hasse ich diese Form von Massendressur und andererseits hätte ich ohne sie keine Gratisprodukte. Oh, ich könnte mich jetzt und hier eigentlich endlich mal bedanken. Und zwar nicht nur bei den Werbern, sondern bei all den beeinflussbaren Kreaturen, die nach dem Konsum dieser Gehirnwäsche auch gleich in die Läden rennen und dem suggerierten Wunsch loyal das entsprechende Produkt kaufen (ach, hätte ich doch dem Mann vorhin auf der Strasse auch gleich Danke gesagt, wo er doch all die Sachen mit sich herumschleppt und an sie glaubt). Es ist übrigens schwierig, sein Unterbewusstsein davon abzuhalten nicht selbst auch dem von überall her einströmenden Informationsfluss von zig Formen der Werbung den Treue-Eid zu schwören. Vollständiger Entzug ist von dieser Sucht nicht möglich, denn wir selber sind die Droge und die Werbung ist süchtig nach uns. Trotzdem versuche ich mich seit langem zu wehren: kein Radio, keine TV-Werbung, und immerhin auch ein "Bitte keine Werbung"-Kleber auf dem Briefkasten (den hat jetzt allerdings meine Mitbewohnerin weggenommen - offenbar hat sie schon kapituliert). Erschreckend ist dann, wie ich im Kino oder sonstwo, wo ich die Werbung nicht wegzappen kann, interessiert zuhöre und die Sachen bewusst aufnehme, wohingegen die Menschen um mich herum sich zum Beispiel schon so an Radiowerbung gewöhnt haben, dass sie gar nicht mehr merken, ob nun Musik oder Werbung läuft - die haben dann also schon eine Standleitung zwischen der Werbung und ihrem Unterbewusstsein. Und ich werde als Single-User meiner Ohren noch davon abgelenkt, genervt und kann nicht weghören. Eigentlich schlecht, zumal man ja heute immer mehr zum menschlichen Informations-Filter wird. Da liefert uns Google mit Werbungen umrahmt innerhalb von 0.09 Sekunden 5'710'000 verschiedene Seiten mit dem Wort "Liebe" drin, wobei mindestens 5'000'000 davon wohl nur auf mein Geld aus sein werden. Also filtert man halt heraus was man braucht.

Die Frage bleibt also: wie wehrt man sich gegen all die kleinen nervigen Sachen, die uns täglich quälen, gegen all die kleinen Misshandlungen, die uns fast stündlich widerfahren? Soll ich die Post wegen Sexueller Nötigung verklagen, weil ich die Briefmarke ablecken muss? Soll ich jedem Spam-Mailer als Dankeschön einen Virus zurückschicken? Oder soll ich meinen Hass einfach gegen die üblichen Sündeböcke richten? die Kapitalisten? die Islamisten? die Juden oder wer auch immer gerade dran ist? Nein, sicher nicht.

Trotzdem wird von vielen einfach der Hass, der Kampf oder sogar die Gewalt gewählt, um seinem Unwohlsein zu entfliehen. Gerade wenn dieses Unwohlsein die Angst ist, so lenken gewisse Regierungen diese gerne auf andere Völker oder Regierungen. Da fällt mir gerade auf, dass in der Politik vom WahlKAMPF und nicht irgendwie von einem WahlENGAGEMENT oder so gesprochen wird - ist das, weil man dort nicht versucht Stimmen zu gewinnen, sondern Gegenstimmen zu töten?

Jetzt bin ich irgendwie vom Thema abgekommen. Zurück zu den 5'710'000 Links für die Liebe. Ich finde das gut so. Verglichen mit dem Mittelalter wäre es ja ein Fortschritt, wenn man jetzt auch als normaler Bürger Zugang zu dieser gewaltigen Ladung Information hat, wo doch damals nur privilegierten dies vorenthalten war und diese den normalen Bürgern dann erzählen konnten, was sie wollten. Aber für diesen Fortschritt muss man natürlich zuerst ein Benutzerprofil einrichten, sich anmelden und andere Hürden überwinden können.

Irgendwie ist mein Thema jetzt wirklich abhanden gekommen. Doch wieso muss ich überhaupt ein Thema haben? Kann ich nicht einfach so drauf los schreiben? Ja, vielleicht sollte ich mich jetzt genau gegen die üblichen Formen und Normen wehren und neben meinem Widerstand gegen den regelmässigen Konsum von Koffein und Nikotin auch noch aufhören mich nach den üblichen Regeln zu kleiden. Anstatt mich diesem Gruppendruck immer zu fügen und mir dazu auch noch immer eine entsprechende Frisur zu sprayen, sollte ich mal mit Anzug und Kravatte in die Vorlesungen, mit zerissenen Jeans an Beerdigungen und Hochzeiten (übrigens verblüffend, dass ich bisher meinen Anzug soviel ich weiss nur für Hochzeiten und Beerdigungen gebraucht habe, was diese beiden Anlässe für mich unweigerlich verbindet) und in Badehosen an Vorstellungsgespräche. Das wäre doch schon fast eine neue Religion: ein bisschen von der Zerstörerischen Kraft des Nihilismus und ein bisschen vom Widerstand Ghandhis. Und schon nach kurzer Zeit wäre es ein neuer Trend und alle würden so rumlaufen. Und überhaupt: immer das Gegenteil vom Normalen zu tun ist genauso von diesem Normalen bestimmt, also wiederum eine Form des Gruppendrucks.

So, es ist 2 Uhr nachts und ich kann die Buchstaben vor Müdigkeit kaum mehr erkennen. Sorry für die Fehler, aber eine Korrektur würde das ganze zerstören.

Masi, 14.02.2003