Marcel Germann

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Die Kette

Manchmal steht er am Fenster - für längere Zeit. Er sieht die Autos wie sie schön gleichmässig und kontinuierlich in beide Richtungen fahren, als wären sie eine ewige Kette, verknüpft durch unsichtbare Seile, von der nur hie und da ein Glied hupend aus der Reihe ausbricht um lediglich einen neuen Platz einzunehmen. Es sind so viele, dass er sie nach zwei drei Minuten nicht mehr unterscheiden kann. Sie verlieren jede Individualität und werden für ihn wie Ameisen.

Fast hätte er vergessen, dass in jedem dieser Kettenglieder ein Individuum sitzt. Nur mit Anstrengung kann er sich darauf konzentrieren, versucht Menschen hinter den Scheiben zu finden. Doch es ist schon zu spät und zu dunkel. Die Lichter der Autos blenden ihn, als ob man ihn daran hindern möchte das Innenleben - ja das Leben überhaupt - dieser ewigen Kette zu erkennen. Auch lassen sie ihm keine Zeit, so schnell wie sie vorbeifahren.

Er stützt sich auf das Geländer. Wozu fährt der Mensch im roten Opel in diese Richtung und nicht in die entgegengesetzte? Würde es einen Unterschied machen? Für den Fahrer vielleicht, doch auch für alle anderen? Nein, bestimmt nicht, denkt sich unser Betrachter, sie sind nur da um die jährliche Statistik zu erhöhen. Sie sind einfache Zahlen. Von links kommen etwa gleich viele wie von rechts. Am Morgen kommen von links mehr, am Abend dominiert die andere Seite. Alles gleicht sich aus und der einzelne verschwindet aus dieser Sichtweise total.

Es ist als hätten sich all diese Leute einzig und allein dafür zusammengeschlossen um gemeinsam für mich Lärm und Gestank zu produzieren - ja vielleicht auch um mich zum Denken anzuregen, überlegt sich nun unser Betrachter und verwirft den abwegigen Gedanken auch gleich wieder mit einem leichten und leblosen Lächeln.

Wie man sich das oft auch bei Ameisenstrassen überlegt, fragt er sich nun, was passieren würde, wenn er eine dieser vorbeiziehenden Maschinen entfernen würde. Würde man den Menschen darin vermissen? Natürlich. Seine Familie, seine Freunde, vielleicht auch seine Katze, die würden ihm nachtrauern. Man würde ihm irgendwo auf einem Friedhof zwischen unzähligen anderen Gräbern auch ein Loch buddeln und ihn so wieder in eine Kette einfügen. Die Angehörigen würden weinen. Doch auch sie würden sich wieder in ihren Platz einordnen und die Lücke schliessen die er hinterlassen hat. Alle anderen Menschen würden die Veränderung nicht einmal bemerken.

Wie diese Kette ein ewiges Möbiusband für unseren Betrachter ist, so scheinen ihm jetzt auch die Häuser, die Städte, die Staaten und all die Menschen darin wie ein die Weltoberfläche umspannendes Netz. Endlos sind seine Fäden und unbedeutend seine vergänglichen Knoten. Unbedeutend vielleicht auch die Kugel um die es sich spannt.

Er dreht sich um und geht weg vom Fenster. Sein kleiner Junge ist im Wohnzimmer und hantiert mit einem Spielzeugauto. Der Vater setzt sich jetzt auf das Sofa und nimmt den kleinen auf die Schoss. Schwach doch klar erkenntlich sieht er wie sich seine Züge auch im Gesicht des Jungen abzeichnen. Beruhigt lässt er den kleinen wieder mit dem Auto spielen.

Masi, 25.10.2002